Ostblock: Die Auflösung

Ostblock: Die Auflösung
Ostblock: Die Auflösung
 
Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 mit der feierlichen Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki beendet worden war, bildete nicht nur den vorläufigen Höhepunkt der weltweiten Entspannungsbemühungen, sondern auch eine Wendemarke in den Ost-West-Beziehungen. Für die Sowjetunion war maßgeblich, dass der Westen mit Unterzeichnung der Schlussakte die bestehenden Grenzen in Europa anerkannt und damit die sowjetischen Nachkriegsgewinne auch ohne Friedensvertrag mit Deutschland sanktioniert hatte. Im Gegenzug gestand die Kremlführung für ihren Herrschaftsbereich die Einhaltung der Menschenrechte zu. Verglichen mit der Festschreibung des Status quo in Europa erschien ihr dies als ein geringes Übel. Während die USA damals noch unter dem Vietnamtrauma litten, begann die Sowjetführung eine neue Offensive in der Dritten Welt. In Afrika, namentlich in Angola und Äthiopien, verbarg sie ihr Engagement noch hinter Militärberatern und Soldaten des verbündeten Kuba. In Afghanistan jedoch, wo nahezu zeitgleich zur antiwestlichen Revolution im Iran das prosowjetische Regime gestürzt worden war, ließ Moskau eigene Truppen eingreifen. Damit endete um die Jahreswende 1978/79 abrupt die Entspannungsperiode und der Kalte Krieg brach in alter Schärfe wieder aus.
 
 Die beginnenden Achtzigerjahre
 
In London und Washington traten mit Premierministerin Margaret Thatcher und Präsident Ronald Reagan 1979 und 1981 konservative Regierungen ins Amt und erhöhten den Druck auf Moskau. Der Sieg der sowjetfreundlichen Sandinisten in Nicaragua (1979) drohte das Land zu einem »zweiten Kuba« vor den Toren der USA zu machen. Überdies hatte die Sowjetunion schon 1978 damit begonnen, die modernen Mittelstreckenraketen vom Typ SS20 mit der Zielrichtung auf Westeuropa zu installieren. Daraufhin kündigte die NATO mit ihrem Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 für 1983 die Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen und Cruisemissiles in Europa an, wenn Verhandlungen über den Abbau entsprechender sowjetischer Waffen scheitern sollten. Mit Beginn der Stationierung westlicher Mittelstreckenraketen Ende 1983 zog sich die sowjetische Führung aus den Verhandlungen über diese Raketen und über die strategischen Nuklearwaffen zurück. Sie hatte sich inzwischen jedoch in eine Sackgasse manövriert, weil sie der technologischen Herausforderung eines erneuten Rüstungswettlaufs mit den USA wirtschaftlich nicht mehr gewachsen war. Der 1985 neu gewählte Generalsekretär des ZK der KPdSU Michail Gorbatschow zog die Konsequenzen aus dieser Einsicht: Er rief die sowjetischen Truppen 1988/89 aus Afghanistan zurück und schlug radikale Abrüstungsverhandlungen vor.
 
Unterdessen hatte sich in den Ländern Osteuropas gezeigt, dass die historische Vielfalt der kulturellen und ethnischen Räume auch unter kommunistischer Herrschaft nicht verloren gegangen war. Gegen die Einebnungsversuche marxistisch-leninistischer Dogmatiker hatten Teile der intellektuellen Eliten dort eine lebendige Erinnerung an nationale Traditionen bewahrt und pflegten sie entweder in der isolierten Existenz eines Dissidententums oder in Verbindung mit den Bräuchen der einfachen Bevölkerungsschichten. Nach 1975 bildeten sich im Osten auch »Helsinki-Gruppen«, die unter Berufung auf die KSZE-Schlussakte die Einhaltung der Menschenrechte überwachten oder anmahnten.
 
In Ungarn war unter János Kádár nahezu unbemerkt ein wirtschaftlicher Reformkommunismus eingeleitet worden, der über das ältere jugoslawische Modell der »Selbstverwaltung« unter Josip Tito hinausging. Polen wiederum übernahm die politische Vorreiterrolle bei der Überwindung der doktrinären Erstarrung des Ostblocks. Die 1980 gegründete unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarność ertrotzte kurzfristig ein Streikrecht und forderte eine »Finnlandisierung« Polens, verlangte also von der Sowjetunion die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Zwar wurde die Bewegung im folgenden Jahr durch Wojciech Jaruzelski in ihrem phänomenalen Aufstieg gebremst und durch Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 in den Untergrund abgedrängt. Ihrer Popularität über die Grenzen hinweg tat dies allerdings keinen Abbruch — im Gegenteil, der freiheitliche Aufbruch erfuhr durch zwei Besuche des 1978 neu gewählten polnischen Papstes Johannes Paul II. in seinem Heimatland zusätzlichen Auftrieb. Wenngleich dieser religiöse Impuls in den anderen osteuropäischen Staaten nicht annähernd so stark ausfiel, strahlte von Polen nun doch ein allgemeines Signal zur nationalen Selbstbesinnung aus.
 
 Das Wendejahr '89 im Überblick
 
Unterschiedliche Formen des Protests mündeten in der 2. Hälfte der Achtzigerjahre in ein erstaunlich paralleles politisches Handeln. In allen mittel- und osteuropäischen Hauptstädten traten 1989 entschlossene und mutige Persönlichkeiten auf. Sie waren zuvor oft unnachsichtig verfolgt, aus Lehrämtern vertrieben, ins Gefängnis geworfen oder zur Arbeit als Klempner, Heizer, Bauarbeiter und Milchmann gezwungen worden; andere hatte man ins Exil gedrängt, zur inneren Emigration genötigt oder zur Publikation eigener Werke im Westen veranlasst. In der DDR und der Tschechoslowakei gab es wegen der relativ gesicherten Versorgungslage keine breite Volksopposition wie etwa in Polen, wo Arbeiter streikten, eine reiche »Samisdat«-Literatur blühte und die Kirche über eine schier unerschütterliche Autorität verfügte. Ungeachtet dessen verkündeten überall einzelne Vordenker die Ziele einer neuen Zeit: die Wiedergewinnung der eigenen, nationalen Geschichte, den Neuaufbau einer freien Gesellschaft, die Zulassung privaten Wirtschaftens und die Wiederbelebung kirchlicher Traditionen. Aber erst im Herbst 1989 setzten sich die Motoren des Wandels gegen die Bremser durch.
 
In der Sowjetunion begann die Erosion der Macht der Kommunistischen Partei mit dem Amtsantritt Gorbatschows 1985. »Weniger Ausgaben für die Rüstung, mehr für den zivilen Aufbau des Landes!« — so lautete seine Devise. Die sowjetische Militärpräsenz in Osteuropa hielt er zwar nicht für entbehrlich, wohl aber für reduzierbar. Sein Ziel war die neue Verbindlichkeit der Formel von den »verschiedenen Wegen« zum Sozialismus. Mit seinem Bekenntnis zur Offenheit (Glasnost) ermunterte er überdies zu einer Auseinandersetzung mit der jeweiligen Nationalgeschichte, was in der Regel zulasten der Sowjetunion ausfiel. Die Polen fragten nun offen nach den im Zweiten Weltkrieg von den Sowjets in einem Wald bei Katyn (Russland) erschossenen polnischen Offizieren, die Ungarn nach den ermordeten Helden des Aufstands von 1956, die Balten nach den Deportationen von 1940. Die Menschen in Osteuropa nahmen den Juni 1989 als doppelten Wendepunkt wahr: Einerseits läuteten die Wahlen in Polen, in deren Folge Tadeusz Mazowiecki zum ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt wurde, den Abgesang des Kommunismus in Europa ein, andererseits weckte das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking selbst bei Anhängern systemkonformer Reformen Zweifel an der Möglichkeit eines friedlichen Wandels des Weltkommunismus.
 
 Zerfall der europäischen Nachkriegsordnung
 
Von der Wucht der nun folgenden Ereignisse in Osteuropa wurde Gorbatschow nicht minder überrascht als alle anderen Regierungen in Ost und West. Innerhalb weniger Monate zerfiel die europäische Nachkriegsordnung. Nicht mehr Moskau, die »heilige Stadt« des Weltkommunismus, sondern Warschau und Danzig, Budapest, Prag, Sofia, Ostberlin und Leipzig, Temesvar und Bukarest waren die Zentren eines neuen Lebensgefühls. Auch das Schicksal der Sowjetunion selbst entschied sich in den Hauptstädten ihrer Republiken — in Riga und Reval (Tallinn), Kiew und Wilna, ChiÇinău und Minsk.
 
Im Westen verfolgten die Menschen das atemberaubende Geschehen mit ungläubigem Staunen. Die Anzeichen eines schleichenden wirtschaftlichen Niedergangs und politischer Destabilisierung in den Ländern des »real existierenden Sozialismus« hatten sie zuvor kaum wahrgenommen. Die überalterte Kremlführung hielten sie für einen Hort der Stabilität und die geopolitische Überdehnung der sowjetischen Außenpolitik als das leidige Attribut einer Supermacht. Gorbatschows neuen Kurs begrüßten viele begeistert.
 
An der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts, der Grenze zum Westen, drängten 1989 nun die Menschen auf Reiseerleichterung und Ausreisemöglichkeiten. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag verwandelte sich in ein Massenlager ausreisewilliger DDR-Bürger. Als die ungarische Regierung dem Andrang der Flüchtlinge aus dem ostdeutschen »Bruderstaat« nachgab und die Grenze zu Österreich öffnete, destabilisierte sie zugleich die Regierung in Ostberlin. Diese öffnete nach dramatischen internen Auseinandersetzungen am späten Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer. Damit brach der Damm, der die sozialistischen Staaten Europas nach innen und außen abgeschirmt hatte. Nach den beiden Weltkriegen erlebte der Kontinent den dritten, diesmal in Friedenszeiten entstandenen Epochenbruch im 20. Jahrhundert — die Auflösung der Ordnung von Jalta und damit das Ende der »Pax Sovietica« für den Osten Europas.
 
Prof. Dr. Nikolaus Katzer, Hamburg
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Sowjetunion: Die UdSSR und der Ostblock
 
KSZE: Die Schlussakte von Helsinki und ihre Auswirkungen

Universal-Lexikon. 2012.

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